Zwei

Es war fast, alls hätte er auf sie gewartet.

Neely Wallace fühlte sich sehr stark zu diesem rätselhaften Mann hingezogen, als sie auf dem Parkplatz des Lakeview Cafés stand und ihm in die dunklen Augen schaute. Und bevor sie noch daran denken konnte, daß der Mann praktisch ein Fremder für sie war, grüßte sie ihn ganz spontan.

Im Hinblick auf die Tatsache, daß es Menschen gab auf dieser Welt, die sie zum Schweigen bringen oder sogar töten wollten, war Neelys Reaktion erstaunlich. Einen flüchtigen Moment lang wünschte sie, nie für Senator Dallas Hargrove gearbeitet und nie seine kriminellen Handlungen aufgedeckt zu haben.

Der Fremde lächelte, der Schnee sank zwischen ihnen nieder und tauchte das Land in magische Stille. Etwas in dem Blick des Mannes faszinierte sie so sehr, daß sie am liebsten für immer und ewig stehengeblieben wäre, um ihn anzusehen.

Es war fast, als schaute er tief in ihr Innerstes mit diesen bemerkenswerten Augen; als weckte er einen lebenswichtigen Teil ihres Seins, der ihr bis dahin unbekannt gewesen war.

Neely räusperte sich nervös, aber sie behielt ihr Lächeln bei. Sie hätte sich die Zeit nehmen sollen, ihren Bruder anzurufen, als ihre Schicht beendet war, dann wäre er herübergekommen und hätte sie zum Campingplatz zurückbegleitet. Wenn sie den Fremden nicht schon am Abend zuvor gesehen hätte, als sie mit Danny an seiner Tür klingelte, hätte sie ihn vielleicht für einen Straßenräuber oder Vergewaltiger gehalten — oder vielleicht sogar für jemanden, den ihr früherer Chef beauftragt hatte, dafür zu sorgen, daß sie niemals wieder ein Wort über seine enge Verbindung zu Drogenhändlern äußern konnte. »Das Café ist geschlossen«, sagte sie. »Wir öffnen morgen um fünf.«

Er kam nicht näher, dieser Mann, und doch spürte Neely seine Gegenwart mit allen ihren Sinnen. »Haben Sie keine Angst«, sagte er. »Ich bin nicht gekommen, um Ihnen etwas anzutun.«

Neely nahm an, daß ein bezahlter Mörder das gleiche sagen würde, doch die Idee paßte nicht zu ihren Empfindungen. Sie fürchtete sich auch gar nicht wirklich, und doch flatterte ihr Herz. »Ich glaube, ich habe gestern Ihren Namen nicht verstanden«, sagte sie und brach damit endlich die Lähmung, die sie bis jetzt gefangengehalten hatte.

»Aidan Tremayne«, sagte er und blieb auch weiterhin auf Distanz. »Und wer sind Sie?«

»Neely Wallace«, erwiderte sie und fand endlich die Kraft, ihren Weg über den schneebedeckten Parkplatz fortzusetzen.

Eine hohe Hecke trennte das Parkgelände von dem Motel und dem Campingplatz. Unter dem bogenförmigen Eingang blieb Neely stehen, um sich nach dem Mann umzusehen.

Doch Aidan Tremayne war verschwunden. Keine Spur war von ihm zurückgeblieben, selbst der frische Schnee war mit Ausnahme von Neelys eigenen Fußabdrücken völlig unberührt.

Sie blieb einen Moment stehen und lauschte, doch sie hörte nichts. Nach einem tiefen Atemzug ging sie rasch zu ihrem kleinen Campingmobil weiter, das neben Bens größerem stand, und schaute dort noch einmal über ihre Schulter. Aber auch jetzt war nichts mehr von Aidan Tremayne zu sehen.

»Komisch«, murmelte Neely, als sie die Tür aufschloß und eintrat. Erst als sie das Licht angeschaltet und ihren Mantel ausgezogen hatte, erinnerte sie sich daran, abzuschließen und den Riegel vorzuschieben.

Ihr Telefon, ein schlichtes schwarzes Modell mit altmodischer Drehscheibe, erschreckte sie mit einem lauten Klingeln. Von einer merkwürdigen Erregung erfaßt, ergriff sie den Hörer.

»Verdammt, Neely«, sagte ihr Bruder, »ich habe dir gesagt, daß du mich rufen sollst, wenn du das Café schließt! Hast du die Zeitungen nicht gelesen? Es ist gefährlich für eine Frau, so spät am Abend allein draußen zu sein.«

Neely nahm Ben die barschen Worte nicht übel, sie wußte, daß er sich um sie sorgte. Wahrscheinlich war er außer Danny und Wendy Browning, ihrer besten Freundin, der einzige Mensch auf dieser Welt, dem etwas an ihr lag.

»Entschuldige, Ben«, erwiderte sie, streifte ihre Stiefel ab und betrachtete stirnrunzelnd eine Laufmasche in ihrer Strumpfhose. Diese hier würde weder mit Haarspray noch mit Nagellack zu stoppen sein. »Ich weiß, daß es spät ist, deshalb habe ich nicht angerufen. Ich wußte, daß Danny schon im Bett sein würde, und wollte nicht, daß du ihn allein läßt.« Sie machte eine kurze Pause, dann fragte sie: »Was weißt du über Aidan Tremayne, den Mann, der in dem alten Herrenhaus etwas weiter unten an der Straße wohnt?«

Ben klang müde. »Nur daß er Aidan Tremayne heißt und in der alten Villa wohnt. Aber warum fragst du?«

Neely war merkwürdig enttäuscht. »Ach, nur so. Danny und ich waren gestern auf unserer Halloweenrunde bei ihm. Er erschien mir irgendwie ... anders.«

»Ich glaube, er ist eine Art Einsiedler«, entgegnete Ben und gab sich keine Mühe, sein Desinteresse zu verbergen. »Hör zu, Neely, ich bin todmüde ... Wir sehen uns morgen, Liebes.«

Ein warmes Gefühl für ihren Bruder erfaßte Neely. Sie und Ben hatten viel mehr gemeinsam als ihre toten Eltern. Seine Frau Shannon war vor einigen Jahren an Krebs gestorben, und kurz nach ihrem Tod hatte er auch noch seine Stellung in einem Pittsburgher Stahlwerk verloren. Seither kämpfte er sehr hart, um ein neues Leben für sich und Danny aufzubauen. Auch Neely hatte sich gezwungen gesehen, ihr altes Leben aufzugeben — ihre Arbeit, ihre Wohnung, ihre Freunde —, weil sie zuviel über gewisse mächtige Leute wußte.

»Gute Nacht«, sagte sie zärtlich.

Ihr Wohnwagen bestand aus einem einzigen Raum mit einem Klappbett auf der einen Seite und einer Kochnische auf der anderen. Das winzige Badezimmer war nicht viel größer als der Dielenschrank in ihrer alten Wohnung.

Nachdem Neely geduscht und ihr Haar getrocknet hatte, erhitzte sie eine Dose Gemüsesuppe und aß auf ihrem Bett, während sie sich eine späte Talkshow im Fernsehen ansah.

An diesem Abend war Neely nicht imstande, sich auf die Monologe des Gastgebers zu konzentrieren, obwohl sie ihn sonst ausgesprochen unterhaltsam fand. Nein, heute dachte sie an Aidan Tremayne und fragte sich, wer er sein mochte und warum sie so heftig auf ihn reagierte. Er war einer der attraktivsten Männer, denen sie je begegnet war. Sie war noch immer sehr erschüttert von der unerwarteten Begegnung mit ihm — ganz zu schweigen von der Art und Weise, wie er verschwunden war ... als ob er sich in Luft aufgelöst hätte!

An diesem Abend war Aidan ganz besonders hungrig, aber er ging nicht auf die Jagd. Der Hunger schärfte seinen Verstand, und während er allein in seiner luxuriösen Bibliothek saß, erlaubte er sich einen Rückblick auf jene andere Zeit, als er noch ein Mann und kein Monster gewesen war.

Mit geschlossenen Augen ließ er seine Gedanken in die Vergangenheit zurückschweifen. Wie den meisten Sterblichen, war auch ihm nie bewußt gewesen, was es hieß, einen starken, gleichmäßigen Herzschlag zu besitzen, kräftige Lungen, die nach Luft verlangten, und Muskeln, die Befehle von einem lebendigen Gehirn entgegennahmen. Damals, in jenen unkomplizierten Zeiten, hatte seine Männlichkeit im Vordergrund gestanden, nicht sein Verstand.

Und heute war er eine leere Hülle, eine Verirrung der Natur, Dank seines ungestümen Charakters, dank seiner stetigen Suche nach Vergnügungen und dank Lisette war er heute ein Ungeheuer, das nur durch die Aufnahme menschlichen Bluts fähig war zu existieren. Aidan sehnte sich nach ewigem Frieden, aber er fürchtete zu sehr die Möglichkeit eines Weiterlebens nach dem Tod, um freiwillig aus seiner Existenz zu scheiden.

Er lächelte traurig, als er Jahrzehnte und dann Jahrhunderte in Gedanken vorüberziehen ließ. Er war zweiundzwanzig gewesen, als das Undenkbare geschah. Man schrieb das Jahr 1782, und er befand sich in einem kleinen Raum über einer verrufenen englischen Taverne, nicht weit entfernt von Oxford ...

Lisettes hüftlanges kastanienbraunes Haar bedeckte wie ein seidener Schleier Aidans Oberkörper, ihre eisblauen Augen blickten zärtlich auf ihn herab. »Mein schöner Junge«, murmelte sie und streichelte seine Brust, seinen Bauch, sein Glied. »Ich könnte es nicht ertragen, dich aufzugeben.«

Aidan stöhnte. Sie waren die ganze Nacht zusammen gewesen, und wie immer, wenn der Morgen heraufdämmerte, wurde sie sentimental und gierig. Er war überrascht, als er eine neue Erektion verspürte, denn er hatte geglaubt, sie hätte ihn bereits erschöpft.

Lisette war um einiges älter als Aidan, und ihre Erfahrung in erotischen Angelegenheiten war beträchtlich, aber abgesehen davon wußte er kaum etwas von ihr. Eines Nachts, als Aidan einen einsamen Spaziergang unternahm, hatte eine prächtige, von sechs Rappen gezogene Kutsche neben ihm gehalten, und Lisette — ein blasses, fast überirdisch schönes Wesen — hatte ihn mit einem Lächeln und einer Handbewegung aufgefordert, einzusteigen. Seither trafen sie sich regelmäßig.

Und nun lachte sie über sein Widerstreben, obwohl sein junger Körper durchaus bereit schien, sich mit ihrem erneut zu vereinen.

Sie bestimmte den Rhythmus, war Angreiferin und Verführerin. Sie nahm Aidan in Besitz und ließ ihn gleich danach halb bewußtlos auf den zerknitterten Laken liegen.

Halb benommen schaute Aidan zu, wie seine Geliebte eine unruhige Wanderung durch den kleinen Raum aufnahm. Sie trug jetzt wieder ihr hauchdünnes, fließendes Musselinnachthemd, die dichten Locken fielen wie ein rotgoldener Wasserfall auf ihren schmalen Rücken. Aidan war froh, daß es schon fast Morgen war und sie ihn wie immer um diese Zeit verlassen würde, denn er befürchtete, daß eine weitere Umarmung ihn umbringen würde.

»Sieh zu, daß du dich während meiner Abwesenheit nicht mit irgendwelchen Dirnen einläßt«, sagte sie gereizt. »Ich würde das nicht dulden!«

Aidan richtete sich halb im Bett auf. »Ich bin nicht dein Eigentum, Lisette«, erwiderte er. »Also sag mir nicht, was ich zu tun und was ich zu lassen habe.«

Darauf drehte sie sich jäh zu ihm um, und er sah etwas Schreckliches in ihrem Gesicht, obwohl es fast dunkel im Zimmer war und nur ein schwacher Mond hereinschien. »Wage es nicht noch einmal, in diesem respektlosen Ton mit mir zu sprechen!« herrschte sie ihn an.

Aidan konnte recht dreist sein, und der Anwalt seines Vaters schwor, daß diese Eigenschaft eines Tages sein Ruin sein würde — aber nicht einmal er wagte, Lisette noch weiter herauszufordern. Sie war keine gewöhnliche Frau, das war ihm seit langem klar, und er spürte auch, daß sie eine ihm noch unbekannte Macht besaß.

Wahrscheinlich war es das, was ihn so sehr an ihr reizte, ganz abgesehen von ihrer unersättlichen Begierde und ihrer unermeßlichen Schönheit.

Lisette warf einen düsteren Blick zum Fenster, dann schaute sie wieder Aidan an, und ihre Augen glühten in der Dunkelheit. Sie waren hart wie Edelsteine und glitzerten von einem eisigen Feuer. Lisette gab ein ersticktes Geräusch von sich, eine Mischung aus Verlangen und Bedauern, und stürzte sich auf ihn.

Aidan versuchte, sie abzuschütteln, betroffen über die Heftigkeit ihres Angriffs, aber zu seiner Enttäuschung stellte er fest, daß sie viel stärker war als er.

»Bald«, murmelte sie, wieder und wieder, wie eine Mutter, die ihr Kind beruhigt. »Bald, mein Liebling, wird uns die ganze Welt gehören ...«

Aidan spürte ihre spitzen Zähne in seinem Hals, und sein Herz überschlug sich vor Entsetzen. Er kämpfte, um Lisette abzuwehren, aber sie war wie eine Marmorstatue, begrub ihn unter sich und drohte ihn zu zermalmen. Er fühlte eine Ohnmacht nahen und wußte plötzlich, daß er sterben und Maeve, seine Schwester, nie wiedersehen würde; daß er nie wieder lachen, nie wieder malen und nie wieder Wein und Bier mit seinen Freunden trinken würde.

Er verstärkte seine Anstrengungen, bemühte sich, die drohende Ohnmacht abzuschütteln, während unerträgliche Schmerzen seinen Körper peinigten.

»Beruhige dich«, wisperte Lisette und hob den Kopf, um Aidan anzuschauen. »Deine Freunde, die armen Narren, werden glauben, du seist tot, aber du wirst nur schlafen, Aidan. Ich werde kommen, um dich abzuholen, mein Liebling, bevor sie dich begraben.«

Aidan war entsetzt und unendlich verwirrt. Er fühlte sich sehr merkwürdig; sein Körper war schwach wie im Augenblick des Todes; er vermochte kaum die Augen aufzuhalten, während seine Seele auf den Schwingen einer dunklen Euphorie dahin-schwebte. »0 Gott«, flüsterte er, »was ist mit mir?«

Lisette erhob sich, aber das änderte nichts für Aidan, denn er war nicht mehr fähig, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen.

»Das wirst du bald sehen, Liebling«, erwiderte sie. »Aber du kannst dir die Mühe, Gott um Hilfe anzurufen, ersparen. Um Wesen unserer Art kümmert er sich nicht.«

Aidan bemühte sich verzweifelt, aufzustehen, aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu, konnte nur in entsetztem Schweigen zusehen, wie Lisettes Gestalt sich in wirbelndem, glitzerndem Nebel auflöste. Sie war fort, und obwohl Aidan bei vollem Bewußtsein war, begriff er, daß sie ihn ermordet hatte.

Er konnte weder sprechen noch aufstehen, sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, und er atmete nicht mehr. Als die ersten Sonnenstrahlen in den Raum drangen, war er blind. Sein Fleisch brannte wie auf einem Scheiterhaufen, aber Aidan wußte jetzt, daß der Schmerz keine körperliche Ursache hatte. Er war tot, wie Lisette gesagt hatte, und trotzdem war ihm nur allzu deutlich bewußt, was um ihn herum geschah.

Ein Dienstmädchen, das hereinkam, um das Zimmer aufzuräumen, fand ihn später an diesem Morgen. Ihre Schreie gellten in seinen Ohren, er versuchte, sich zu bewegen, zu reden, ihr zu zeigen, daß er bei Bewußtsein war, aber es war alles sinnlos. Aidan war eine lebende Seele, die in einem Leichnam gefangen war.

Er war sich auch der anderen bewußt, als sie kamen. Es war, als habe der bewußte Teil seines Seins sich an die Zimmerdecke erhoben, um auf die anderen herabzuschauen. Zwei Männer befanden sich im Raum, der Tavernenbesitzer und sein Sohn, doch bald erschien auch ein Priester.

Der Junge hängte die Tür aus, und sie legten Aidans hilflosen Körper auf die hölzerne Bahre. Er konnte nicht das Geringste tun, um sie daran zu hindern.

»Arme Seele«, sagte der Priester und machte das Zeichen des Kreuzes über Aidans sterblichen Überresten. »Was mag ihm zugestoßen sein?«

»Er ist als glücklicher Mann gestorben«, erwiderte der Junge grinsend. Es schien ihn nicht zu stören, daß er mit einem Vertreter Gottes sprach. »Ich habe die Frau gesehen, die bei ihm war, und die Geräusche gehört, die beide verursachten!«

Aidan kehrte von der Zimmerdecke in seinen reglosen Körper zurück und versuchte, etwas zu bewegen — ein Ohr, eine Wimper, einen Gesichtsmuskel. Nichts. Schwärze hüllte ihn ein, sog ihn auf, mit Hirn und Seele, und plötzlich war er niemand mehr und nirgends.

Als er erwachte, war er immer noch nicht fähig, sich zu rühren. Er wußte jedoch aufgrund jenes merkwürdigen siebten Sinnes, den er kurz nach Lisettes Angriff entwickelt hatte, daß er, mit zwei Münzen auf den Augen, im Hinterzimmer eines Totengräbers lag. Beim ersten Tageslicht war er in einen Sarg gebettet und nach Hause nach Irland gebracht worden, endlich keine störende Verantwortung für seinen reichen englischen Vater mehr. Seine Mutter, eine dunkelhaarige Tavernenkellnerin, eine Frau, die stets ein Lachen bereit hatte und noch bereitwilliger ihre Röcke hob, würde vermutlich eine Zeitlang trauern, aber am schlimmsten würde Maeve leiden. Maeve, seine Zwillingsschwester, die Gefährtin seiner Kindertage, das Gegenstück seiner Persönlichkeit.

Hoffnung erwachte in Aidans Sein, als er eine kühle Hand auf seiner Stirn spürte; seine Hoffnung erstarb, als er die Stimme seiner Mörderin erkannte. »Na also, ich habe dir doch gesagt, daß ich dich holen würde«, sagte sie und plazierte einen kühlen Kuß, wo eben noch ihre Hand gelegen hatte. »Hast du Angst gehabt, mein Liebling? Vielleicht wirst du jetzt begreifen, was es bedeutet, mich herauszufordern.«

Eine heftige, unerklärliche Angst erfaßte Aidan, doch er war nicht fähig, etwas zu sagen. In seinem Innersten schrie er auf, als sie sich über ihn beugte und ihre Zähne sich in seine Haut bohrten wie Nadeln in ausgetrocknetes Pergament. Im nächsten Augenblick schien flüssige Energie in ihn hineinzuströmen; er konnte wieder sehen und hören, mit kristallklarer Schärfe, obwohl er noch immer keinen Herzschlag spürte und auch keinen Atem. Eine unirdische, unfaßbare Macht erwuchs in ihm, gewann an Kraft und sprudelte in ihm auf wie Lava, die durch die Kuppe eines Berges bricht.

Seine Muskeln waren wieder flexibel; er richtete sich auf der hölzernen Bahre auf und stieß Lisette mit einer Bewegung seines Arms beiseite.

»Was hast du getan?« keuchte er, denn die Freude, die ihn von innen her erfüllte, war von der Art, wie normale Sterbliche sie niemals erfahren würden. Sie war düster und böse, und obwohl er Lisette am liebsten fortgeschleudert hätte, griff er doch nach ihr und klammerte sich an ihr fest. »In Gottes Namen, Lisette — was für eine Kreatur bist du, und was hast du mit mir gemacht?«

Lisette hob schützend die Arme, als wollte er sie schlagen. »Sprich nie wieder den Namen des Allerhöchsten aus — es ist verboten!«

»Sag es mir!« brüllte Aidan.

Ein Rascheln ertönte hinter der Tür der Totenkammer, Schritte erklangen und Stimmen.

Lisette trat an Aidans Seite. Ihr Geist erfüllte den Raum, wirbelte in ihm herum wie ein unsichtbarer Sturm und verschluckte ihn. Als Aidans Bewußtsein zurückkehrte, befand er sich in einem feuchten Gewölbe mit kalten Steinwänden.

Er lag wieder auf dem Rücken, diesmal auf einer Art Altar. Im flackernden Schein von einem Dutzend Kerzen erblickte er Lisette, die zu seinen Füßen aufragte wie ein furchtbarer Racheengel.

»Bitte«, sagte er in einem rauhen Wispern. »Sag mir, was ich bin.«

Sie lächelte und trat neben ihn, strich ihm sanft das Haar aus der Stirn. Er war nicht gefesselt, soweit er sehen konnte, und doch mußte sie ihn irgendwie an seinem Platz festhalten, denn er fühlte sich wieder völlig machtlos.

»Beruhige dich, mein Liebling«, erwiderte Lisette. »Du bist jetzt ein ganz wundervolles Wesen, mit Eigenschaften, von denen andere nur träumen können. Du bist ein Vampir.«

»Nein!« stieß er entsetzt hervor. »Nein! Das ist unmöglich solche Dinge gibt es nicht!«

»Psst«, sagte Lisette und legte den Zeigefinger an ihren schönen, tödlichen Mund. »Du wirst dich bald an die Veränderung gewöhnen, Liebling. Sobald du das ganze Ausmaß deiner Macht gespürt hast, wirst du mir dankbar sein für das, was ich getan habe.«

»Dankbar?« Aidan zitterte, so groß war sein Bemühen, sich aufzurichten. Und so sinnlos. »Wenn es wahr ist, was du sagst — und das kann ich nicht glauben — werde ich dich verfluchen, Lisette. Aber ich werde dir nie, niemals dankbar dafür sein!«

Lisettes schönes Gesicht erstarrte zu einer Maske des Zorns.

»Undankbar! Du weißt nicht, was du sagst. Ansonsten würde ich dich nämlich ins Sonnenlicht hinausstoßen, damit du die Qualen kennenlernst, die nur ein Vampir erleiden kann! Du kannst dich glücklich schätzen, Aidan Tremayne, daß ich dir sehr geneigt bin!« Sie hielt inne, um sich zur Ruhe zu zwingen. Dann schenkte sie Aidan ein Lächeln. »Schlaf jetzt, Liebling. Ruh dich aus. Wenn es wieder dunkel wird, zeige ich dir Orte und Dinge, die du dir nicht einmal in deinen kühnsten Träumen vorgestellt hast.«

In den Nächten, die darauf folgten, erfüllte Lisette ihr Versprechen.

Sie brachte Aidan bei, zu jagen, und obwohl er es verabscheute, lernte er seine Lektion. Sie lehrte ihn auch, sich so mühelos, wie ein Sterblicher von einem Raum zum anderen wechselte, zwischen Zeiten und Kontinenten zu bewegen. Von ihr lernte Aidan, ein sicheres Versteck zu finden und seine Anwesenheit vor dem Bewußtsein Sterblicher zu verhüllen.

Es war Lisette, bei der Aidan puren, beständigen und einzigartigen Haß kennenlernte, und all dieser Haß war auf sie gerichtet.

Er bedauerte seine Opfer und hungerte oft bis zum Rande des Zusammenbruchs, um kein Blut trinken zu müssen. In einer nebligen Winternacht, nicht lange, nachdem Lisette ihn aus einem Mann in ein Ungeheuer verwandelt hatte, saß er allein in einer Landgaststätte und tat so, als ob er Bier tränke, als sich ihm ein anderer Vampir näherte ...

»Du schwelgst in Erinnerungen an mich? Wie rührend.«

Aidan erschrak in dem bequemen Sessel in seinem Haus in Connecticut und stieß einen verhaltenen Fluch aus. Sein unerwarteter und fraglos arroganter Gast lehnte in lässiger Eleganz am Kaminsims. Er trug sogar das goldene Medaillon, was bedeutete, daß er zum Scherzen aufgelegt war.

Wie Aidan verachtete auch Valerian das stereotype Image des Filmvampirs.

»Es ist das zweite Mal in ebenso vielen Nächten, daß ich dir unbemerkt erschienen bin«, meinte Valerian vorwurfsvoll und zupfte an seinen makellos weißen Handschuhen. »Du wirst allmählich unvorsichtig, mein Freund. Sag mir, hast du so gut gespeist, daß es deine Wahrnehmung trübt?«

Aidan stand auf und erwiderte den forschenden Blick seines Gasts. Valerian war alt nach den Maßstäben von Vampiren, seine Verwandlung hatte irgendwann im vierzehnten Jahrhundert stattgefunden. Er war ein prächtiges Ungeheuer, das zu imponierenden Zurschaustellungen seiner Macht neigte. Doch nur die Törichten zeigten Furcht in seiner Gegenwart.

Wenn Valerian Feigheit spürte, wurde er gefährlich verspielt, wie eine Katze, die eine Maus zwischen ihren Krallen hält.

»Ein bißchen Selbstbetrachtung wird mir ja wohl noch gestattet sein«, sagte Aidan, schenkte sich einen Cognac ein und hob das Glas in einem spöttischen Toast, obwohl er gar nicht trinken konnte. »Ich dachte gerade daran zurück, auf welche Weise ich in den Stand eins Dämonen erhoben wurde.«

Valerian lachte, nahm Aidan das Glas aus der Hand und schüttelte den Inhalt ins Feuer. »In den Stand eines Dämonen, hm? Haßt du uns so sehr, Aidan?«

»Ja!« stieß Aidan hervor. »Ja! Ich hasse dich, ich hasse Lisette, und am meisten hasse ich mich selbst.«

Valerian gähnte. »Du wirst allmählich etwas langweilig, mein Freund, mit deinem ständigen Gewinsel über das, was du bist. Wann wirst du akzeptieren, daß du es für den Rest aller Zeiten sein wirst? Warum findest du dich nicht endlich damit ab?«

Aidan kehrte seinem Gefährten den Rücken zu, trat vor eins der Bücherregale und ließ seine Hand leicht über die ledergebundenen Ausgaben gleiten, die er so liebte. »Es gibt einen Weg, den Fluch zu beenden«, sagte er mit Entschiedenheit. »Es muß einfach einen solchen Weg geben.«

»Oh, natürlich gibt es den«, stimmte Valerian heiter zu. »Du brauchst nur einem Sterblichen zu verraten, wo dein Versteck ist, und dir von ihm einen spitzen Holzpfahl ins Herz treiben zu lassen, während du schläfst. Oder such dir eine Silberkugel und erschieß dich.« Er erschauerte, seine Stimme nahm einen verächtlichen Tonfall an. »Beide Schicksale sind allerdings nicht sehr wünschenswert, befürchte ich. Es sind schreckliche Todesarten, Aidan, und was danach kommt, ist sogar noch schlimmer, sowohl für uns als auch für Sterbliche.«

Aidan wandte sich nicht von den ledergebundenen Tagebüchern ab, die er im Laufe zweier Jahrhunderte geschrieben hatte. Seine Niederschriften bewahrten ihn davor, den Verstand zu verlieren, und würden der Geschichte einmal — so hoffte er — eine andere Perspektive verleihen. Er hatte sein ganzes Leben in diesen Büchern beschrieben.

»Ich kann auf deine Lektionen verzichten, Valerian. Wenn du mir nichts anderes zu sagen hast, dann geh jetzt bitte.«

Valerian seufzte philosophisch, ein sicheres Zeichen, daß er zu einer ausgedehnten Predigt ansetzte. Doch diesmal überraschte er Aidan, indem er schlicht erwiderte: »Lisette ist wieder unterwegs, mein Freund. Sei vorsichtig.«

Aidan drehte sich langsam zu Valerian um. Als er genug gelernt hatte, um ein selbständiger Vampir zu sein, und Lisettes Aufmerksamkeiten entschieden zurückwies, war sie zuerst sehr beleidigt gewesen und hatte ihm lange gezürnt, um sich schließlich in ein ihm unbekanntes Versteck zurückzuziehen. Ab und zu kam sie daraus hervor, um ihren gewohnten Beschäftigungen nachzugehen, doch Aidan hatte sie schon seit Jahren nicht mehr belästigt. Er machte sich ihretwegen nur noch selten Sorgen, obwohl Valerian und Maeve ihn oft für seine Unvorsichtigkeit schalten.

»Sie hat mich längst vergessen«, sagte er. »Ich war nur eine ihrer zahlreichen Eroberungen.«

»Du machst dir etwas vor«, entgegnete Valerian ernst. »Lisette hat viele Liebhaber gehabt und viele Vampire geschaffen, aber du warst der einzige, der es je wagte, sich ihren Forderungen zu widersetzen und sie abzuweisen. Es ist ein Wunder, daß du noch existierst, und ich weiß wirklich nicht, warum ich versuche, dich zu schützen, wenn du letztendlich doch bloß sterben willst.«

Aidan ergriff mit beiden Händen Valerians seidene Rockaufschläge. Er fürchtete nicht um sich selbst, aber er hatte Angst um Maeve und diese Frau, Neely. »Hast du Lisette gesehen?« fragte er barsch. »Verdammt, hör auf, wie die Katze um den heißen Brei zu schleichen, und sag mir, was du weißt!«

Valerian schüttelte Aidans Hände ab. »Ich hatte nicht das Pech, Lisette zu begegnen«, antwortete er mit düsterer Würde, »aber andere haben sie gesehen. Sie ist schwach und jagt nur selten, wie ich hörte, doch trotz allem hat sie sich aufgerafft, und früher oder später, wie die Sterblichen es nennen, wird sie dir die Hölle heißmachen.«

Aidan fuhr sich mit der Hand durchs Haar, seine Gedanken rasten. »Wo? Wo ist sie gesehen worden?«

»In Spanien, glaube ich«, antwortete Valerian. Er hatte seine Aufmerksamkeit einer Spieldose zugewandt, die auf Aidans Schreibtisch stand; Valerian liebte Apparate. Er drehte den Schlüssel um, und die hellen Töne einer uralten Melodie erfüllten den Raum. »Wenn du mir jetzt sagst, daß du sie suchen willst« erklärte er geistesabwesend, »schwöre ich dir, keinen Finger mehr für dich zu rühren.«

»Diesen Schwur hast du schon oft genug abgegeben«, erwiderte Aidan. »Es ist nur schade, daß du ihn nie hältst.«

Valerian lachte, aber das laute Klicken, mit dem er die Spieldose schloß, war ein sicherer Hinweis auf seine Stimmung. »Was für ein dreister kleiner Welpe du doch bist! Wer sonst außer Lisette könnte auf die verrückte Idee kommen, ein solch schwieriges Menschenwesen in einen Unsterblichen zu verwandeln und uns damit alle zu ewigem Pathos zu verdammen?«

»Ja, wer sonst?« entgegnete Aidan seufzend und ließ die Schultern hängen. Er war geschwächt vor Hunger, aber die Morgendämmerung war schon zu nahe. Es blieb ihm keine Zeit mehr für eine richtige Jagd. »Es tut mir leid«, sagte er, was jedoch nicht stimmte, und das wußten beide. »Wirst du es mich wissen lassen, falls du Lisette siehst?«

Der ältere Vampir maß ihn mit einem kalten Blick, dann sagte er: »Du wirst ihr vielleicht noch lange vor mir begegnen, Aidan.« Stirnrunzelnd zupfte er seine Handschuhe glatt und setzte seinen Zylinder auf. »Und jetzt adieu. Es wird gleich dämmern. Schlaf gut, mein Freund — und vor allem sicher.«

Damit löste Valerian sich in Luft auf. Er liebte dramatische Abgänge.

Aidan schürte das Feuer im Kamin und verließ das Haus. Im verschneiten Wald bewegte er sich geräuschvoll wie ein Mensch, statt mit der Lautlosigkeit eines Vampirs. Vielleicht hatte Valerian ja recht; vielleicht liebäugelte er mit seinem Verderben, aus der unbewußten Hoffnung heraus, daß es weder Himmel noch Hölle nach dem Tod gab, sondern nur Vergessen.

Im Vergessen würde er Frieden finden.

Aidans Hunger war fast unerträglich, als er sich dem verlassenen Minenschacht näherte, der ihm als Versteck diente. Er schaute zum Himmel auf und sah, daß ihm noch etwa fünfzehn Minuten blieben, bevor die Sonne am Horizont auftauchte. Zeit genug, um sich zu Neely zu begeben, Zeit für einen Blick auf sie, der ihn über den langen, totenähnlichen Schlaf hinwegtrösten würde.

Doch dann schüttelte er den Kopf. Nein. Er wagte es nicht, sich ihr zu nähern, wenn er Nahrung brauchte.

Durch das Unterholz bahnte er sich den Weg zu seiner Höhle, kroch hinein, kauerte sich gegen eine Wand und verschränkte die Arme um seine Knie. Dann gähnte er, ließ den Kopf sinken und schlief ein.

Das alte Herrenhaus war Neely in der Halloweennacht etwas unheimlich erschienen, aber als sie jetzt im hellen Sonnenschein davorstand, fand sie es harmlos und nicht ungewöhnlich, mit Ausnahme seiner Größe vielleicht.

Sie wußte selbst nicht recht, warum sie gekommen war; Mr. Tremayne hatte sie jedenfalls nicht dazu aufgefordert. Neely wußte nur, daß sie sich zu diesem Haus und zu seinem Besitzer hingezogen fühlte. Es war, als hätte sie Aidan Tremayne schon immer gekannt, als hätten sie sich einst sehr, sehr nahe gestanden, um dann brutal getrennt zu werden. Ihm zu begegnen war wie eine Wiedervereinigung gewesen, die Wiederherstellung von etwas, das ihnen vor langer Zeit geraubt worden war.

Nach kurzem Zögern betrat sie die Veranda und klingelte an der Tür.

Niemand antwortete, und so versuchte sie es ein zweites Mal. Wieder ließ sich niemand blicken.

Neely ging einmal um das große Haus herum, weil sie hoffte, den Eigentümer im Garten zu finden, aber auch hier keine Spur von Aidan.

Enttäuscht, aber in gewisser Weise auch erleichtert, machte Neely sich schließlich auf den Heimweg. Ihre morgendliche Arbeit war erledigt, sie hatte den Nachmittag frei. Danny würde bis drei Uhr in der Schule sein, und Ben war mit der Reparatur eines Rohrbruchs beschäftigt.

Sie beschloß, sich Bens alten Toyota auszuleihen und nach Bright River zu fahren. Ihre Emotionen ließen ihr keine Ruhe; sie hatte versucht, Tremayne aus ihren Gedanken zu verbannen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, die Redaktion des Clarion aufzusuchen und im Archiv der Tageszeitung nach etwaigen Hinweisen auf Aidan Tremayne oder seine Familie zu suchen. Es kann mir nicht schaden, meine beruflichen Talente zu pflegen, dachte sie, als sie über die Schnellstraße fuhr. Denn daß sie nicht für den Rest ihres Lebens als Kellnerin arbeiten konnte, war ihr klar; das würden ihre Füße gar nicht aushalten.

Neely stellte die altersschwache Heizung des Wagens ein und fröstelte trotz der heißen Luft, die ihr entgegenschlug. Sie spürte, daß Aidan ihr Leben verändern würde und sie seins; sie wußte es so sicher, als hätte ein Engel ihr dieses Wissen eingeflüstert. Ein geheimnisvolles Rätsel tat sich vor ihr auf, sie war begierig, es zu lösen.

Vorausgesetzt natürlich nur, daß sie lange genug am Leben blieb, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Sie seufzte und dachte, daß sie leider viel zuviel über die Einkommensquellen der Wahlkampagne ihres früheren Chefs wußte — unter anderem. Fünf Jahre Arbeit in Washington hatten Neely von ihren Illusionen kuriert. Hargrove war ein netter Mensch, der bestimmt nicht gern ihren oder anderer Leute Tod befahl, aber er liebte auch die Macht, die seine Stellung ihm verlieh, und den Status, der damit verbunden war. Der Senator würde niemals seinen Reichtum, seine Position und seine Ehe opfern, um Neely am Leben zu erhalten, und schon gar nicht seine persönliche Freiheit.

Sie mußte von jetzt an noch vorsichtiger sein und endlich aufhören, so zu tun, als sei ihre Welt noch in Ordnung.